Es war ein perfekter, sonniger Nachmittag, gerade
richtig für ein Nickerchen, und die alte Hofkatze lag schläfrig auf
einem Strohhaufen neben dem Scheunentor. Die Sonne wärmte ihr
gestreiftes Fell, und sie streckte sich und ließ ihre Krallen ein-
und ausfahren und gähnte mit weit geöffnetem, rosafarbenem Mäulchen.
Die Bienen summten geschäftig beim Einsammeln der Pollen, die Vögel
zwitscherten in den Bäumen und lullten die Katze, welche
"Mutter" genannt wurde, in einen tiefen Schlaf. Sie träumte
vom Mäusefang in den dunklen Ecken der Scheune, und ihre Barthaare
zuckten und die Zähne klapperten erwartungsvoll ? doch, um die
Wahrheit zu sagen, die Tage des Mausens waren schon lange für sie
vorüber, und ihre Rippen zeichneten sich ab vom Hunger. Sie rollte
sich fester zusammen, als wollte sie die Kätzchen beschützen, welche
seit über einem Dutzend von Jahren einen so großen Teil ihres Lebens
ausgemacht hatten. Es war aufgrund ihrer Scharen von Kindern und
Kindeskindern und deren Kindern, dass man sie "Mutter"
nannte, und es lag viele Generationen zurück, seit jemand sich an
ihren eigentlichen Namen erinnert hatte.
Eine sanfte Brise spielte mit ihren Fellhaaren
und sie atmete langsam krächzend ein und aus im Rhythmus des tiefsten
Schlafes. Sie hörte nicht, was sich ihr auf verstohlenen Pfoten
näherte, und wurde erst aufgeweckt, als ein Schatten vor sie trat und
die Sonne verstellte. "Miau?!" erwachte sie mit einem
Schlag und blinzelte mühsam auf die Silhouette einer großen Katze,
die vor ihr stand. Sie setzte sich mit steifen Gliedern auf und
blickte mit zusammengekniffenen Augen in das Sonnenlicht, während ihr
ein leichtes Keuchen entwich.
Vor ihr saß die schönste Katze, die sie
jemals gesehen hatte, mit einem Fell gleich brüniertem Golde,
Streifen aus lohfarbenem Braun, großen saphirgleichen Augen und
hochgestellten, quastigen Ohren. Um ihren Hals trug sie eine Kette
aus Gold, von welcher ein Amulett hing, und von ihrer
sandsteinfarbenen Nase bis hin zu den dunklen, fremdartigen Mustern
um ihren Schwanz herum war sie das Abbild von Katzenschönheit.
Mutter war zu überwältigt, um sprechen zu
können. Die goldfarbene Katze wandte ihren Blick von Mutter ab und
betrachtete die Umgebung abschätzend, dann sprach sie..
"Gesegnet seiest Du Katze, welche Du
"Mutter" genannt wirst. Du bist alt und müde, und ich bin
gekommen, um Dich heimzuführen. Du bist mir seit vielen Jahren
bekannt, und ich weiß von Deinen Kümmernissen und Leiden. Von heute
an wird das alles vergessen sein, und Du wirst in meinem Tempel
wohnen, wo Dir an nichts mangeln wird. Meine Diener werden für Dich
sorgen. Du wirst ein Kissenlager in der Sonne haben, frischen Fisch und
die Liebe und den Respekt aller."
Mutter hatte Mühe, ihre Stimme wieder zu finden,
nicht ganz sicher darüber, ob dies ein Traum war oder nicht.
"Und wer, wenn ich fragen darf, seid Ihr und von woher in aller
Welt kommt Ihr?!" gelang es Mutter schließlich hervorzustottern.
Die schöne Katze lächelte mit schlauer
Miene. "Ich bin Bastet, und ich komme aus einer anderen Zeit und
von einem anderen Ort. Ich wohne im Tempel von Bubastis am Ufer des
Nil - der recht nett ist, jedenfalls was Tempel betrifft - und ich
bin die Erwählte des Ra, des Sonnengottes, die Beschützerin der
Mütter und Kinder, die Göttin der Fruchtbarkeit ... und verschiedener
anderer Dinge, an welche ich mich momentan nicht alle erinnere."
"Und was wolltet Ihr mit mir anfangen,
und warum sollte ich diesen Ort verlassen wollen? fragte Mutter.
"Das hier ist mein Heim."
Bastet betrachtete das Scheunentor, welches
von einer Angel herunterhing, daneben den Misthaufen, die zerfallenen
und verrosteten Fahrzeuge des Menschen, und sie rümpfte die Nase.
"Heim? Das hat nicht viel von einem Heim, oder?"
Mutter folgte dem Blick der goldfarbenen
Katze, mit welchem diese ihre Welt abmaß, und ließ den Kopf hängen.
"Ich weiß, das sieht für einen Fremden nach nicht viel aus, aber
es ist alles, was ich jemals gekannt habe."
"Liebe Katze," sagte Bastet sanft,
"verlasse diesen Ort. Deine Kinder sind nun fast alle fort, auf
den Strassen überfahren, gestorben vor Hunger, vermindert durch
Krankheit und Leiden, ihre Jungen von Falken gestohlen, von Hunden zu
Tode geschüttelt, von den Buben der Menschen gequält ? und die
wenigen, welche heil geblieben sind, vermehren sich einhaltlos. Euch
allen gelingt es kaum, genug zum Leben zusammenzukratzen. Dem Mann
und der Frau hier bedeutest Du nichts. Wann war das letzte Mal, dass
sie Dich hielten oder streichelten oder Deine Wunden versorgten oder
Deine Toten begruben und den Verlust beklagten? Sie werfen Dir bei
Gelegenheit ein paar Krumen zu, aber auch in den kältesten Nächten
musst Du Dich zum Schutze im Stroh eingraben. Komm mit mir zu meinem
Heim, wo Du Deine alten Knochen am Herd wärmen kannst, wo Du niemals
mehr das Nagen des Hungers verspüren wirst."
Mutter blinzelte, und die Wahrheit ließ die
Welt, welche sie Zuhause nannte, irgendwie trostlos und
heruntergekommen erscheinen. Sie schluckte schwer, bevor sie
antwortete.
"Oh Schönste der Schönen, ich kann
nicht leugnen, dass das, was Ihr sagt, wahr ist, aber ich werde hier
gebraucht. Wer wird sonst darauf achten, dass die Kätzchen nicht in
die Felder streunen und sich dort verlieren oder in den Bach fallen?
Was, wenn eine Ratte plötzlich kommen sollte oder ein Kojote ? wer
würde meine Familie warnen? Was, wenn der Mann krank werden oder
sterben sollte? ? Vielleicht würde die Frau jemanden brauchen, der
sie tröstete."
Bastet blickte sie an und verengte ihre
Augen zu Schlitzen. Sie war es mehr gewohnt zu befehlen als zu
überreden.
"Liebste Mutter, Du hast einen
besseren Ort verdient. Du hast Kätzchen gesäugt bis Deine Brust
schmerzte. Du hast zugesehen, wie die Jungen, um welche Du Dich
sorgtest, hinwegstarben. Die Menschen sind Narren! Sie sind blind
gegenüber Schönheit und hartherzig. Wenn sie Dich wirklich liebten,
würdest Du dann hier alleine im Stroh schlafen ohne auch nur soviel
wie ein freundliches Wort oder eine Liebkosung? Komm mit mir zu
meinem Tempel aus Gold und lebe auf alle Ewigkeit im Paradies."
Mutter schüttelte ihren Kopf langsam
ablehnend.
"Es tut mir leid, Gütigste aller Katzen, aber ich kann nicht.
Das ist mein Zuhause, so wie es ist. Ich habe dem Mann und der Frau
schon vor langer Zeit vergeben. Ich gehöre hierhin in diese Berge ?
das sind meine Bäume, mein Bach, mein Hinterhof. Meine Kinder und
Kindeskinder und deren Kinder brauchen mich. Bitte haltet mich nicht
für undankbar, aber ich bin, auf meine eigene Weise, glücklich."
Bastet bewegte ihren Schwanz hin und her.
Dass jemand ihr keinen Gehorsam zeigte, war eine neue Erfahrung für
sie, aber aus Achtung vor so viel Ehrlichkeit und Loyalität, auch
wenn es ihr töricht erschien, sprach sie freundlich.
"Es ist unleugbar, liebe Mutter, dass
ich Deine Gesinnung nicht zu ändern vermag, aber ich kann Dich auch
nicht verlassen, ohne Dich in irgendeiner Form belohnt zu haben.
Sicherlich wird es etwas geben, das Du für Dich selbst haben
möchtest?"
Mutter überlegte einen Moment lang. Sie
hatte noch nie sehr viel besessen, das war richtig, aber sie konnte
sich auch nur schwer vorstellen, was eine Katze sonst noch haben
könnte oder haben wollte.
"Nun, ich denke, ich würde gerne meine
Krallen behalten ? ich habe gehört, dass manchen Katzen die ihren von
den Menschen abgehackt werden, und ich kann mir ein Leben ohne
Krallen nicht vorstellen."
Nun war Bastet an der Reihe, ihren Kopf zu
schütteln. Hatte es jemals eine Katze gegeben, die weniger verlangte
als diese hier, die man Mutter nannte?
"So sei es, Mutter, Du sollst Deine Krallen
behalten. Aber da sollte noch mehr sein ... lass mich überlegen. Ja!
Alle Tigerkatzen werden ab heute das Zeichen meines Amuletts um ihren
Hals tragen zum Gedenken an dieses Treffen. Doch, das ist nicht
genug. Lass mich noch weiter nachdenken.
Ich habe es! Von nun an werden alle Katzen, und sei es auch nur kaum
sichtbar, das Zeichen des Buchstaben "M" auf ihrer Stirn
tragen, zu Ehren der Katze, die Mutter genannt wurde. Hmmm ... aber
auch das scheint noch nicht genug zu sein." Bastet schloss ihre
Augen und zuckte mit ihren quastigen Ohren. Sie schlug in Gedanken
mit ihrem Schwanz auf und ab und stampfte ungeduldig mit der Pfote.
"Ich weiß!" verkündete sie und
leckte ihre Pfote mit Genugtuung. "Von diesem Tage an, auch
nachdem Du Dein irdisches Zuhause verlassen hast, wird Dein Geist
stets anwesend sein. Am Rande des Waldes und der Felder wird der
Mensch eine braune Tigerkatze aus dem Winkel seines Auges heraus
sehen. Wenn er in seinem Wagen fährt, wird er Dich an der Seite der
Strasse wahrnehmen. Wenn er um die Ecke biegt in einer dunklen Nacht
in der Stadt, Du wirst da sein. Unter dem Schein der Laterne, an
Zaunpfosten, in den Alleen, auf Treppenstufen, Du wirst da sein als
bleibendes Mahnmal für den Menschen an das, was er töricht ignoriert
hat - das einfache, stille, loyale und vergebende Herz einer braunen
Tigerkatze. Und das, höchstgeachtete Mutter, welche Du unter dem
Schutze von Bastet stehst, ist mein Geschenk an Dich."
Mit dieser Verkündigung schüttelte sie
Goldstaub von ihrem prächtigen Fell ab und entfernte sich
gebieterischen Schrittes. Mutter nistete sich in ihrem Stroh ein und
begann, ihre Pfoten zu lecken. Sie hatte keinerlei Vorstellung davon,
was sich ereignet hatte und wunderte sich, ob es eine Art von
Wachtraum gewesen war. Die Sonne schien, die Bienen summten und die
Vögel begannen erneut zu zwitschern. Mutter schlief fest ein.
Die Tage vergingen einer nach dem anderen,
und alles war wie eh und je, so schien es jedenfalls. Es war an einem
Abend kurz vor Sonnenuntergang, nur wenige Zeit später, als der Mann
von den Feldern heimkehrte. Er lehnte schwer gegen den Pfosten der
hinteren Haustüre, als er seine Arbeitsstiefel auszog und sie dumpf
auf dem Boden aufschlagen ließ. Die Frau war damit beschäftigt, den
Tisch für das Abendessen zu decken, und ein Feuer brannte lichterloh
im Kamin.
"Ich dachte, Du sagtest, dass Du die
alte Mutterkatze gestern tot aufgefunden hättest?" sagte er zu
seiner Frau.
"So ist es auch," entgegnete die
Frau. "Ich hab sie heute morgen zum Abfall rausgesetzt."
"Merkwürdig. Ich hab gerade gedacht,
dass ich sie neben dem Holzstapel gesehen hätte, als ich gekommen
bin," sagte er.
"Komisch, dass Du das sagst. Ich bin
heute morgen vom Briefkasten zurückgelaufen und ich hätte schwören
können, dass ich sie am Feldrand gesehen habe."
In ihrem Tempel, in einem Land und einer
Zeit weit entfernt, saß Bastet und lächelte.
Das Ende
der Geschichte
Unter dem Schutze
von Bast, Beloved of Bast
Jim Willis 2001
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